[...] »Vielleicht können wir helfen, zu verstehen«, sagte Malina vorsichtig, als Mia nichts mehr sagte.
Mia nahm die Hände runter und sah sie alle an. »Was haben meine Gefühle mit der Wirklichkeit zu tun?« Sie dachte auf einmal an ihr Gespräch mit Ramon, als sie darüber sinniert hatten, dass es die Wirklichkeit vielleicht gar nicht gab. Ihr schwirrte der Kopf, als sie zu intensiv darüber nachdachte.
»Das ist ganz leicht«, sagte Malina und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Du weißt doch, wie deine Freunde die Wirklichkeit verändern?«, fragte sie.
Mia sah sie verwirrt an.
»Sie bewegen Gegenstände, lassen Dinge durch die Luft fliegen, setzen Alarmanlagen außer Kraft«, sagte sie schmunzelnd. »Sie verändern die Realität. Jona hat dir schon einmal erklärt, wie sie das machen, nicht wahr?«
Mia erinnerte sich zurück. Er hatte ihr gesagt, dass man das, was man verändern wollte, fühlen musste. Sie dachte an die Medizinbälle, die sie angehoben hatten. Sie hatte fühlen müssen, wie es sich für die Bälle anfühlte zu schweben. Man musste also fühlen. Jetzt wusste sie, worauf sie hinaus wollte und nickte.
Malina streckte die Hand aus und deutete auf die dicke, grüne Kerze, die auf dem Tisch stand. »Du fühlst also, was du bewirken willst und fühlst es so, als wäre es bereits geschehen«, erklärte sie, »und es geschieht.« In diesem Moment ging die Kerzenflamme ganz von allein an.
Mia sah sie erstaunt an.
»Diese Welt funktioniert nach einer Ordnung«, erklärte Malina sanft, »nach Gesetzen. Wir kennen diese Gesetze und ganz besonders gut kennt sie der Teufel. Eins dieser Gesetze ist das Gesetz der Entsprechung.«
Ramon kam jetzt interessiert näher und auch Walt stellte sich dazu.
»Es besagt, dass das Innere auch dem Äußeren entspricht. Wie es innen ist, so ist es außen. Wie oben, so unten. Mikrokosmos, Makrokosmos. Oder wie ihr es kennt: Wie im Himmel, so auf Erden.«
Mia machte große Augen. Das war ein Zitat aus einem Gebet! Konnte sie das sagen, ohne in Flammen aufzugehen?
Ramon lachte kurz.
»Für die Menschen bedeutet das«, sprach Malina weiter, »dass alles, was sie im Inneren sind, auch im Äußeren sehen und erleben. Wenn sie voller Hass, Angst und Wut sind, werden sie das im Außen auch sehen. Der Mensch ist der Mikrokosmos und sieht das, was er ist, im Makrokosmos. Das Innere entspricht dem Äußeren. Die Flamme«, sie deutete wieder auf die Kerze«, ist nur deswegen angegangen, »weil sie meinem Inneren entsprechen muss. Und im Inneren habe ich gefühlt, wie sie brennt. So ist es mit allem. Auch mit dem Teufel. Er entspricht den Gefühlen der Menschen. Er ist der Makrokosmos, der dem Mikrokosmos, also dem Inneren der Menschen, entsprechen muss. Fühlen sie Hass, Angst und Wut, wird er stärker und kann in ihrem Leben agieren. Fühlen sie es nicht …«, sagte sie vorsichtig und sah Mia mitfühlend an, »muss er aus ihrem Leben verschwinden, weil er dann nicht mehr ihrem Inneren entspricht. Verstehst du?« [...]
»Wir haben euch ja bereits erklärt«, fuhr Malina jetzt fort, »dass viele von uns ebenfalls diese Fähigkeiten haben. Sie wurden von euch abgeguckt. Das heißt also, dass ihr diese Fähigkeiten schon immer hattet. Von Anbeginn.« Malina sah sie alle sehr bedeutsam an und erkannte in ihren Gesichtern und Gedanken, dass sie die Tragweite dieser Tatsache nicht erfasst hatten. »Sie sind normal«, betonte sie. »Jeder Mensch hat sie. Aber kaum einer weiß davon. In den meisten Menschen sind sie verschüttet. Und drei Mal dürft ihr raten, wer sie verschüttet hat!« Malina hob erwartungsvoll die Arme und sah die Teenager im Raum an. Doch sie guckten nur ratlos. Sie konnte es nicht fassen, dass sie immer noch nicht kapierten, wie sehr sie unter Angors Einfluss standen.
Kell lachte leise über Malinas Versuch, die Menschheitsgeschichte in ein paar Sätzen zu erklären. Er verstand jedoch ihre Ungeduld. Sie hatten nicht viel Zeit. Angor stellte bereits seine Schachfiguren auf. Und den ersten Zug hatte er letzte Nacht bereits geprobt. Wenn sie nicht schnell einen Weg fanden, wie sie sich zur Wehr setzen konnten, würde er sie alle strategisch und präzise von seinem System niederwalzen lassen. Und zwar schon bald.
»Mit euren Fähigkeiten übt ihr Kontrolle über die Realität aus«, fuhr Vhan fort und warf Kell einen warnenden Blick zu, woraufhin er sofort aufhörte zu lachen. »Und das gefällt Angor nicht, da er die Kontrolle über die Welt und die Realität für sich ganz allein beansprucht«, erklärte er ihnen mit aller Geduld, die er in dieser heiklen Situation aufbringen konnte. »Mit einfachen Worten: Er will nicht, dass ihr Kontrolle habt. Weder über euer Leben noch über die Realität oder sonst irgendwas. Er verhindert seit Jahrtausenden sehr effektiv und erfolgreich, dass die Menschen sich an diese Fähigkeiten der Kontrolle zurückerinnern und gibt ihnen das Gefühl einer höheren Macht ausgeliefert zu sein. Einem Schicksal zum Beispiel oder irgendwelchen Prinzipien von Glück und Unglück. Er hat die Menschen über die Jahrtausende hinweg an unterschiedliche höhere Wesen und Götter glauben lassen, die über sie richten und herrschen, nur um ihnen das Gefühl zu geben, dass nicht siedie Kontrolle über ihr Leben haben, sondern etwas Anderes. Und das hat er nur aus einem Grund getan.« Er sah jetzt Mia an, die zwischen Ramon und Jona stand und gespannt zuhörte. »Er wollte die totale Kontrolle über die Welt, über die Realität und über jeden einzelnen Menschen. Er wollte darüber bestimmen, wann die Menschen glücklich sind und wann sie Angst haben. Und das tut er bis heute. Er kontrolliert einfach alles. Ihr macht euch keine Vorstellung über das Netz, das er über die ganze Welt spannt. Aber ihr«, er zeigte jetzt mit dem Finger auf Jona, »erobert euch langsam ein Stück Kontrolle zurück. Und das stört ihn. Gewaltig!«
Walt trat jetzt vor, sah die Teenager einen nach dem anderen nachdenklich an und kratzte sich an seinem Dreitagebart. Man sah ihm an, dass er kaum geschlafen hatte. Seine Augen waren rot und glasig. »Du willst damit sagen, dass er seit Jahrtausenden diese Fähigkeiten in den Menschen unterdrückt?!«
Vhan nickte.
»Und jetzt«, er deutete auf Jona und die anderen, »seit diese Teenager überall auf der Welt auftauchen, funktioniert diese Unterdrückung nicht mehr?«
Vhan senkte jetzt seufzend den Blick. »Das ist schon häufiger vorgekommen.«
Auf einmal wurde Kell unruhig und ging vor dem Fenster auf und ab. Malina schien ebenfalls nervös zu werden und sah immer wieder in die Gesichter der Anwesenden, als wollte sie abschätzen, wie sie reagierten.
»Was soll das heißen?«, fragte Walt, dem die nervöse Haltung der Vampirgeschwister nicht entging.
»Das heißt, dass es schon öfter passiert ist, dass die Menschen sich an ihr ursprüngliches Selbst erinnert haben und ihre natürlichen Fähigkeiten zum Vorschein kamen. Mehr nicht«, sagte Kell jetzt laut. »Können wir jetzt zum Punkt kommen, Vhan? Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir jetzt vorgehen.«
»Dazu müssen sie die Geschichte kennen«, entgegnete Vhan fest.
»Ich denke, es kann nicht schaden, ein paar Details auszulassen«, stimmte Malina ihrem Bruder zu.
»Was für Details?«, fragte Walt sofort.
Auf einmal wurden auch alle anderen nervös. Sie alle blickten Vhan auffordernd und ungeduldig an.
»Jetzt sag schon.« Walt wurde langsam wütend. »Wann ist das jemals vorgekommen?«
Vhan überlegte noch einen Moment und sah dabei Kell und Malina an, entschied dann aber, es ihnen zu sagen. »Damals ging es hauptsächlich um Frauen, die einen – für damalige Verhältnisse – mystischen und geheimnisvollen Zugang zu Fähigkeiten hatten, der anderen offenbar verwehrt blieb. Man sagte ihnen nach, sie seien mit dem Teufel im Bunde. Dabei war genau das Gegenteil der Fall.«
Walt blieb der Mund offen stehen.
»Hexenverfolgung??«, rief Nadja aus.
Plötzlich wurde es laut im Raum. Panik stieg auf.