In der neuen Auflage von "Euphoria - Das Spiel der Götter", das in Kürze erscheint, wurde die Geschichte um ein Kapitel erweitert, das ich euch hier präsentieren möchte. Es handelt sich um eine Szene ziemlich zu Beginn der Geschichte, als Lucy ins Krankenhaus eingeliefert wird, da sie von dem Lumenischen Kristallsplitter getroffen wurde. Hier ist nun also, was mit ihr geschah, als sie ins Krankenhaus kam...
Das Spiel der Götter: Kapitel 2 - Pechvogel
Wieso perlt das Pech an manchen Menschen ab, wie Regen an einem Ölteppich – und an manchen bleibt es haften wie Teer und Federn? Das war die Frage, die sich Lucy stellte, als sie die Augen öffnete und eine Traube von Sanitätern und Ärzten um sich herum sah.
»Sie ist wach!«, rief einer aus. Sie schienen in Panik zu sein.
Lucy runzelte die Stirn. War sie etwa so schwer verletzt? Sie wollte den Kopf heben, aber jemand drückte sie wieder hinunter. Sie wurde gerade sehr schnell durch einen Gang geschoben. Sie blickte nach oben und sah die Lichter an der Decke. Aber es sah immer noch alles merkwürdig aus. Irgendwie wabernd, als wäre nichts um sie herum fest. Sie versuchte, den Arzt zu fragen, was los war. Aber die Worte kamen nur nuschelnd aus ihrem Mund. Also griff sie mit der Hand nach dem weißen Kittel, der aussah wie eine Wolke. Jemand beugte sich zu ihr hinunter und sie stellte ihre Frage erneut.
»Ihr Bein ist gebrochen und Sie haben innere Verletzungen. Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte er.
Lucy wollte sich vor diesen Worten erschrecken. Aber sie war ganz entspannt. Ja geradezu selig und ruhig. Als sei alles in bester Ordnung. Sie runzelte wieder die Stirn. Sollte sie nicht beunruhigt sein? Sie fühlte ihren Körper kaum noch. Bis auf das Brennen in ihrer Hand. Eine Erkenntnis sickerte in ihr Bewusstsein. Wenn sie nichts spürte, hieß das, dass ihr Rückgrat etwas abbekommen hatte? War sie etwa gelähmt? Wieder versuchte sie, sich zu erschrecken. Aber schaffte es nicht. »Mmmeine Hand«, murmelte sie nur und hob ihre brennende Hand hoch. Aber niemand reagierte.
Stattdessen redete der Arzt mit jemandem, der sich wohl hinter ihr befinden musste. Er sprach von Frakturen. Es waren also mehrere. Nun gut, sie war auch ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen. Aber warum fühlte sie keinen Schmerz? Stand sie noch unter Schock? Fühlte sich ein Schock so an? So völlig friedlich und ruhig?
Eine große Flügeltür wurde geöffnet und sie wurde hindurch geschoben. Jemand sagte: »OP vorbereiten.«
Lustig, dachte sie. Jetzt wurde sie operiert. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte überhaupt keine Angst. Stattdessen fand sie das Gewusel all der Schwestern recht amüsant. War sie etwa high? Hatten sie ihr Lachgas gegeben? Oder Morphium? Sie wollte lachen, weil alle so panisch aussahen, sie aber die Ruhe selbst war. War sie nun doch schon so abgehärtet von ihrem Leben, dass sie sich gerade gar nicht aufregen konnte? Dass sie sich nicht einmal erschrecken konnte? Fand sie das alles schon so normal, dass sie darüber lachen musste?
Sie bezeichnete sich zwar nicht gern als Pechvogel (sie bevorzugte den Begriff »verflucht«), aber Pech war genau das, was ununterbrochen in ihrem Leben geschah. Seit sie denken konnte. So etwas wie das hier war also nicht wirklich ungewöhnlich. Katastrophen passierten ständig in ihrem Leben. Und sie spielte gedanklich meist schon alle Eventualitäten durch, die passieren konnten. Um darauf vorbereitet zu sein. Ja, sie stand morgens sogar schon mit Katastrophengedanken auf. Nicht, weil es ihr Spaß machte. Sondern weil es einfach normal für sie war. Sie wollte eben möglichst auf alles vorbereitet sein, was eventuell passieren könnte. Das gab ihr in ihrem vom Pech verfolgten Leben ein wenig Sicherheit. Aber auf das hier hätte sie sich unmöglich vorbereiten können. Wer ging denn schon von der Möglichkeit aus, von einer mit hunderten Menschen besetzten Tribüne geschossen zu werden? Von irgendeinem Gegenstand, der durch die Luft flog? Sie musste sich eingestehen, dass man sich eben nicht auf alles vorbereiten konnte. Denn manche Pechvögel scheinen eben mehr Pech zu haben als andere. Und Lucy war einer davon.
Sie wurde in der Mitte des Raumes abgestellt. Ärzte und Schwestern liefen umher, bereiteten sich vor, warfen mit Fachbegriffen um sich und Lucy blickte die große Lampe an, die über ihr hing. Sie waberte genauso wie alles andere. Sie bewegte sich, als würde sie aus fließendem Sand bestehen. Am liebsten hätte sie hinein gegriffen, um zu testen, ob sie wirklich so flüssig war, wie sie aussah.
Doch dann wurde sie wieder von dem Brennen in ihrer Hand abgelenkt. Sie stöhnte auf und ballte die Hand zu einer Faust. Es fühlte sich an, als würde Lava durch ihre Adern fließen. Das Brennen stieg hinauf bis in ihre Schulter, dann in ihren Brustkorb und breitete sich schließlich in ihrem ganzen Körper aus. Ihr traten Schweißperlen auf die Stirn und sie stieß einen Schrei aus, bei dem sie es endlich schaffte, ihren Körper zu bewegen. Sie winkelte die Beine an, wobei es heftig knackste und sich an verschiedenen Stellen in ihren Beinen ein glühendes Stechen bemerkbar machte. Sie hatte das Gefühl, ihre inneren Organe, ihre Glieder und sogar ihr Blut würden in Flammen stehen! Sie schnappte nach Luft, als die Schwestern ihren Körper wieder nach unten drückten und sah, wie die Lampe über ihr wild zu flackern begann. Neben ihr stand ein Monitor, der plötzlich ausfiel und sie hörte ein Scheppern, als habe jemand alle Instrumente vom Tisch gefegt. Wieder sah sie Lichtpunkte in der Luft herum schwirren und wieder wölbte sich alles. Der Raum dehnte sich nach außen aus, als würde ein Ballon gegen die Wände drücken.
Lucys Körper bebte plötzlich. Sie drückte das Kreuz durch, wobei sie erneut ein Knacken hörte und spürte dabei, wie eine unbeschreibliche Energie ihre Wirbelsäule hinauf kroch. Sie bebte und surrte in ihren Knochen wie Strom. Ihr Körper krampfte und entspannte sich rhythmisch, zitterte, streckte sich und zog sich wieder zusammen. Und sie hatte keine Kontrolle darüber. Auch die Schwestern hatten kaum genug Kraft, ihren Körper festzuhalten.
»Fixieren!«, rief jemand.
Sie sah eine Frau mit einer Spritze. Lucy hasste Spritzen. Sie hatte Spritzen schon immer gehasst. Aber vermutlich war diese notwendig, dachte sie. Dennoch war es nicht möglich, ihr die Spritze zu verabreichen, weil ihr Körper einfach nicht still hielt. Und einen Moment später sah Lucy, wie die Spritze in der Hand der Frau zerfiel. Sie zerfiel in winzige kleine Stücke! Lucy traute ihren Augen nicht. Die Teile rieselten zu Boden und die Flüssigkeit tropfte von der zitternden Hand der Frau. Sie sah die Schwester an, die fassungslos auf ihre Hand starrte. Wie konnte eine Spritze einfach so zerfallen? Was ging hier vor sich?
Das Licht über ihr flackerte immer heftiger. Und die Stimmen um sie herum wurden immer lauter und panischer. Lucy sah Lichtblitze durch den Raum zucken. Und irgendwann wurde das flackernde Licht so unerträglich hell, dass es in ihren Augen schmerzte. Sie kniff die Augen zu und in dem Moment zerplatzte die Lampe. Sie zersprang mit einem heftigen Knall.
Scherben rieselten auf sie hinab. Und Schreie hallten durch den Raum. Dann war es ganz dunkel. Und ruhig. Und auf einmal beruhigte sich Lucys Körper wieder. Er wurde still. Das Krampfen hatte schlagartig aufgehört. Lucy ließ sich erschöpft auf die Liege fallen. Sie sah noch, wie jemand die Tür öffnete und ein wenig Licht in den Raum fiel. Und sie sah die erschrockenen Gesichter der Schwestern und Ärzte. Sie sahen sich entsetzt um. Und sie sahen Lucy erschrocken an. Ihre Blicke wanderten über Lucys Körper – ungläubig, erschrocken und fassungslos. Sie berührten sie. Betasteten sie. Und wirkten dabei völlig entsetzt. Lucy wusste nicht, was sie sahen. Sie wusste nur, was sie spürte. Sie konnte ihren Körper wieder fühlen – doch er fühlte sich anders an. Ganz anders. So als sei sie in einen anderen Körper hinein geschlüpft. Einen Körper, der das absolute Gegenteil von ihr war. Kraft pulsierte plötzlich durch ihre Adern. Eine Kraft, die sie noch nie zuvor gespürt hatte.